Das Gezeitenmodell der Trauer
Trauer ist keine Krankheit, sie ist ein individueller Prozess. Trauer spielt sich nicht nur im (eher wahrnehmbaren) emotionalen Bereich, sondern auch im kognitiven, physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Bereich ab. In unserem Umfeld sollten wir trauernden Menschen die Zeit zugestehen, die sie brauchen. Und wenn sie es wünschen, unterstützen und begleiten.
Wenn jemand nicht weint, heißt das nicht, dass er oder sie weniger Trauer empfindet. Möglicherweise findet bei dieser Person vieles im kognitiven Bereich statt. Andere werden plötzlich sehr aktiv und handeln auf ungewohnte Weise, während wieder andere körperlich krank werden. Trauerreaktionen sind so unterschiedlich wie wir Menschen.
Die Trauerforscherin Dr. Ruthmarijke Smeding beschreibt die Trauer anhand des Gezeitenmodells®
Gezeiten kennen wir von der Meereskunde. Beeinflusst von den Mondphasen führen Gezeiten regelmäßig zu Ebbe und Flut. Das Bild der immerwährenden Bewegung, des Kommens und Entschwindens des Wassers, symbolisiert das Kommen und Gehen der Trauer.
Anders als bei natürlichen Gezeiten erlebt der Trauernde die Gezeiten der Trauer nicht in derselben Regelmäßigkeit. Smeding spricht deshalb von Zeiten, die sich abwechseln, die nicht beeinflussbar sind und die immer wiederkehren können: Schleusenzeit®, Januszeit®, Labyrinthzeit® und Regenbogenzeit®.
Da der Trauernde nicht stehen bleibt, sondern sich beim Durchleben der Gezeiten verändert und weiterentwickelt, entsteht aus der kreisförmigen Abfolge der Zeiten eine Spirale. Im Gezeitenmodell bewegt sich der Trauernde in Richtung der Mitte also zur Quelle - der Trauernde gibt die Richtung vor, für die meisten geht es nach oben, für manche auch nach unten. Ein „Rückfall“ heißt: „Ich bewege mich in die nächste Spirale.“
Die Spirale der Trauer dreht sich nicht streng nach einem bestimmten Muster. So können Elemente der Regenbogenzeit durchaus auch kurz in der Schleusenzeit aufleuchten, wie z.B. das Lachen während der Beerdigung über eine Anekdote aus dem Leben des Verstorbenen.
Der Trauernde gibt die Richtung an, er hat den Faden in der Hand und muss seine Befähigung finden, mit seinem Verlust zu leben. Dem Trauernden stehen eigene Ressourcen zur Verfügung, diese zu entdecken kann auch Aufgabe einer Begleitung sein, oft schaffen die Trauernden das auch selbst, vor allem, wenn sie gut in einem sozialen Netz eingebunden leben. Benötigt der Trauernde eine Begleitung, sind hierfür Techniken entwickelt worden, die den Trauernden unterstützen, seine Ressourcen zu erschließen und seine eigene Deutung zu finden.
Die Chance, die im Trauerprozess liegt, verdeutlicht Smeding prägnant im Satz:
„Das Loch in das ich fiel, wurde zur Quelle, aus der ich lebe.“
Die Schleusenzeit®
Als Bestatter sind wir primär in der Schleusenzeit, der Zeit zwischen Tod und Beerdigung aktiv. In dieser Zeitspanne von gewöhnlich drei bis zehn Tagen haben die Hierbleibenden, wie Ruthmarijke Smeding sagt, die Möglichkeit, vom Verstorbenen Abschied zu nehmen. In dieser kurzen Zeit ist der Verstorbene noch fassbar, begreifbar vorhanden. Alles was in der Schleusenzeit geschieht oder nicht geschieht, kann Auswirkungen auf die Trauer haben.
Mit dem Tod werden die Schleusentore geschlossen
Der Trauernde und der Tote werden in eine andere Daseinsform, eine andere Dimension gehoben. Solange der Leichnam noch da ist, noch aufgebahrt und besucht werden kann, ist der Abschied noch möglich. Erst mit der Beerdigung oder Trauerfeier zur Kremation wird dieser Abschnitt beendet. Dadurch wird der Ehemann zum Verstorbenen, die Ehefrau zur Witwe. Die Schleuse öffnet sich.
Diese Zeit zu nutzen, kann für die weitere Entwicklung entscheidend sein. Abschied am Sarg nehmen heißt, bewusst zu begreifen, dass hier unwiderruflich ein Leben beendet ist. Am offenen Sarg können noch einmal Dinge gesagt werden, die man versäumt hatte auszusprechen.
Diese Zeit ist unwiederbringlich
Wahrgenommene Möglichkeiten können Trittsteine auf dem Trauerweg werden. So, dass sie im Nachhinein als hilfreich empfunden werden und Halt geben können auf einem unbekannten Weg. Das kann das behutsame Umgehen mit dem Verstorbenen sein, das Einbinden entfernt wohnender Familienangehörigen in ein Aussegnungsritual oder das Ermöglichen der Verabschiedung nach einem Unfall, um nur einige Beispiele zu nennen.
Nach einer vollständig aktivierten Schleusenzeit verringert sich nach der Erfahrung der Trauerbegleitung die Notwendigkeit einer professionellen Trauerbegleitung oder Therapie.
Die Januszeit®
Der doppelgesichtige römische Gott Janus ist Namensgeber der auf die Beerdigung folgenden Zeit. Teils zurückblickend, teils nach vorne gerichtet, durchlebt der Trauernde ein Gefühlschaos in der Januszeit.
Im Alltag macht sich der Tod in seiner vollen Tragweite bemerkbar. Vorher alltägliche Handlungen, wie zu Bett gehen, das morgendliche Aufstehen, die Körperpflege oder Essen und Trinken werden zu schier unüberwindlichen und sinnlosen Hindernissen.
Die scheinbare Sinnlosigkeit des Lebens ohne den Verstorbenen und der Gedanke „Mit dir wäre alles wieder gut“ kennzeichnet diese Zeit des entweder-oder: „Entweder du bist da, dann kann ich weitergehen, oder du bist nicht da, dann geht nichts mehr.“
Im Rückblick ist ja auch alles in Ordnung
Dort, in der Vergangenheit, wohin die eine Gesichtshälfte blickt, besteht ja noch die alte Ordnung, hat alles seinen Sinn. Nach vorne, in die Zukunft blickend, diesem Blick muss sich der Trauernde jetzt stellen, ist Unklarheit und Unordnung.
Während die Kalenderzeit chronologisch weiterläuft, nimmt die Trauerzeit ihren ganz eigenen Verlauf. Die vorherige Sicherheit ist aufgelöst.
Halt in dieser Zeit kann die Wiederherstellung von Alltagsstrukturen geben. Daneben können Trittsteine aus der Zeit vor dem Tod oder der Schleusenzeit Haltepunkte sein, wie z.B. das Gefühl und das Wissen, alles getan zu haben, was möglich war, kann eine große Hilfe sein.
Die Körbe der Trauer
Smeding spricht von fünf Körben der Trauer. Sie befähigen die Trauernden, mit dem umzugehen, was so unerwartet an Herausforderungen über sie hereinbricht: Aushalten, Verwandeln, Loslassen und Tragen lernen sowie neu lernen.
Die Körbe sind Sinnbilder für die Fähigkeiten der Trauernden. Sie werden bewusst mit zwei Henkeln dargestellt, um begreiflich zu machen, dass immer einer da ist, der helfen kann. Trauernde lernen auf schmerzhafte Weise, diese Körbe einzusetzen. Ihr Einsatz findet in allen Gezeiten statt, mit ihnen kann aufgesammelt und getragen werden, man kann in ihnen aufbewahren oder sie zum Wegwerfen nutzen. Sie dienen nicht zum Halten von Gefühlen der Trauer, Tränen können nicht aufbewahrt werden.
Sich um sich selbst zu sorgen, kann helfen, diese Zeit auszuhalten. Smeding spricht davon, die Sinne zu nähren, indem man in die Natur geht und sie erfühlt, Musik hört und Dinge tut, die keinen Bezug zu früher haben. Wenn sich etwas Neues mit dem Bestehenden verbindet, entsteht wieder Sinn und neuer Lebensinhalt. Dies entsteht auf dem Trauerweg hin zur eigenen - neuen - Lebensmitte.
Sich bewusst auf den Weg zu machen, ist der Eintritt in die Labyrinthzeit. Auch in dieser Zeit sind Erfahrungen aus der Januszeit weiterhin möglich, wie es auch bereits „Vorahnungen“ aus der Regenbogenzeit geben kann.
Die Labyrinthzeit®
Mit dem Beginn der Labyrinthzeit steht der Trauernde vor einer neuen Herausforderung.
Er kommt sich vor, wie in einem Irrgarten und muss sich intensiv mit dem erlittenen Verlust auseinandersetzen. Diese Aufgabe hat sich so noch nie gestellt, der zu beschreitende Weg geht über die Vorstellungskraft des Trauernden hinaus.
Verzweiflung und Angst sind für viele ein ständiger Begleiter
Die Trauer kann durch bereits erlebte Verluste verstärkt werden, zum Beispiel weil damalige Verhaltensweisen jetzt nicht mehr hilfreich erscheinen. Der Trauernde erlebt ein Hin und Her und muss die Kontrolle über das eigene Ich erst wieder finden. Aus dem „Uns“ und „Wir“, aus dem „Ich“ und „Du“ entsteht wieder das „Ich“, in einer anderen Form als vorher.
Mit neuen Fähigkeiten in einem neuen Lebenskontext entstehen neue Perspektiven für das Weiterleben. Der Trauernde beginnt, aus den, in die Beziehung zum Verstorbenen gelegten Samen zu ernten.
Die Regenbogenzeit®
In der Regenbogenzeit erfolgt die Hinwendung zum eigenen Leben. Aus dem entweder-oder wird ein „und ... und“: Ich gehe meinen Weg und ich trage dich in meinem Herzen.
Der Trauernde lebt mit der Erkenntnis, dass es nie wieder so wird, wie es war. Der Verstorbene kann einen festen Platz im Leben der Angehörigen erhalten. Gleichzeitig können sie ihren eigenen Lebensweg weiter beschreiten.
Smeding drückt das so aus: „Die Beziehung zur verstorbenen Person hat sich in einen inneren Zufluchtsort verwandelt, an dem man nach Bedarf noch verweilen oder zu dem man freiwillig zurückkehren kann. (Quelle: Angelika Daiker (Hrsg.): Selig sind die Trauernden, Schwabenverlag 2000, S. 20.)
Trotzdem können noch schwere Trauerreaktionen aus Januszeit und Labyrinthzeiterfahrungen auftreten. Es ist wichtig für sich herauszufinden, wie weit man seinen Weg bereits gegangen ist, und zu begreifen, dass solche Reaktionen völlig normal sind und man das Notwendige gelernt hat, um die Trauerausbrüche auszuhalten und für sein Leben zu nutzen.
Die Beendigung der aktiven Trauerzeit
Der Weg vom Loch zur Quelle
In der Trauerforschung spricht man von vier Möglichkeiten, die aktive Trauerzeit zu beenden: Integrieren, Ritualisieren, Abschließen sowie Mischformen.
Ritualisieren
An besonderen Jahres- und Gedenktagen, wird der Verstorbene auf besondere Weise - also durch Rituale - in die Feier mit eingebunden. Somit wird die Beziehung zum Verstorbenen lebendig gehalten. Zum Beispiel der Besuch des Grabes an Weihnachten, wobei die Spitze des häuslichen Weihnachtsbaumes auf das Grab gebracht wird, sonst aber die Beziehung zum Verstorbenen nicht in das tägliche Leben mitgenommen wird.
Integrieren
Der Verlust ist immer präsent und wird als Amputation verstanden. Der Verstorbene wird in das Leben mit einbezogen, es werden „Gespräche“ mit dem Verstorbenen geführt (in dem Bewusstsein, dass dieser Mensch kein realer Teil des Alltags ist). Beim Gedanken an den Toten wird anstelle von Schmerz eher Freude empfunden. Ein integrierter Abschluss kann nach Jahren auch in eine ritualisierte Beendigung umgewandelt werden.
Abschließen
Der Trauernde schließt mit dem Verlust ab, wie man ein gelesenes Buch zuschlägt. Eventuell auch mit Hilfe eines Abschlussrituals. Diese Form des Beendigens wird laut Forschung von rund einem Drittel der Trauernden vollzogen.
Mischformen
Trauer ist so individuell, wie Menschen und ihre Beziehungen. So gibt es diverse Mischformen der Beendigung der aktiven Trauerzeit, die nicht weiter klassifiziert werden können. Um im Bild des Modells zu bleiben, das auf einer Baumscheibe dargestellt wird, kann der Verlust als Einschluss im Baumstamm beschrieben werden. Der Baum wächst, indem er einen weiteren Jahresring bildet und lebt mit diesem Einschluss weiter - frei nach Verena Kast: „Was gibt es in mir, weil es diese Person gab?“
Weitere Informationen zum Gezeitenmodell von finden Sie im Buch „Trauer erschließen“ von Dr. Ruthmarijke Smeding. Das Buch ist im Hospizverlag erschienen.